Helden sind nie perfekt

Sie haben Kanten, Ecken und Charakterschwächen und doch sind sie unsere Helden.

Mein Opa, Grigory Lavrentivich Waschtschenko, ist einer meiner Vorbilder.

Ich bin mit Geschichten über meinen „Dedushka“ aufgewachsen.

In Australien, weit weg von meinem Opa in Deutschland, haben meine Mutter und meine Tanten oft über ihn erzählt. Sie wollten es uns einschärfen, wer unser Opa war und was er alles für den Herrn getan hatte. 

Dinge, die ihn für uns zum Helden des Glaubens machten.

Hunger, der größte Antrieb

Geboren im Jahr 1927 in der Ukraine hatte er einen sehr schweren Start ins Leben.

Er war erst 5 Jahre alt, als die von Stalin erzeugte Hungersnot begann, welche bis zu 10 Millionen Menschen tötete.

In dieser Zeit wurde sein Vater wegen seinem Glauben an Gott inhaftiert und kurz darauf im Gefängnis erschossen. Seine Mutter überlebte diese schwere Periode auch nicht und starb mit 39 Jahren.

Bevor meine Uroma starb, brachte sie ihm noch das Lesen in der Familienbibel bei.

Obwohl er nicht weiter in die Schule gehen konnte, hatte er einen großen Hunger nach Wissen. 

Er lieh von Kindern in seinem Alter Bücher aus, wenn sie auf dem Heimweg an dem Haus seiner älteren Schwester vorbeiliefen. Er las sie nachts durch und gab sie morgens wieder ab, als die Kinder auf dem Weg in die Schule waren. Solche Geschichten prägten meine Kindheit.

Geschichten wie seine Mutter ihn als den „Mann im Haus“ zum Predigen in der Familie beauftragte, nachdem sein Vater inhaftiert wurde. Geschichten wie er mit einem Raben um ein Stück vertrocknetes Schimmelbrot ringen musste, weil seine Schwester nicht genug Essen für ihre eigene Familie hatte und wie er in jungen Jahren Pastor wurde. Durch seinen Dienst bekehrten sich eine Menge von Menschen und ließen sich taufen – trotz der Verfolgungszeit.

Die Hungersnot in der UdSSR hielt ihm klar das geistliche Elend der Menschen vor Augen. Vielleicht war das der größte Antrieb für seinen unermüdlichen Predigerdienst.

Koste es, was es wolle

Diese Zeit forderte auch das Leben seines Bruders, welcher für einige Jahre in ein sibirisches Arbeitslager gebracht und später getötet wurde. Mein Opa war es, der seine eingefrorene Leiche abholte, auf seinem Rücken trug und hunderte Kilometer per Anhalter nach Hause zur Beerdigung brachte.

Viele Menschen wurden durch die Verfolgung schwächer – meinem Opa schien Verfolgung entschlossener zu machen. Oft wurde er von der Regierung einberufen, um den Glauben an seinen geliebten Jesus Christus zu verteidigen. 

Und das tat er, oft zur Verzweiflung von Generälen, Beamten des KGB und Professoren, mit denen er diskutieren musste. Ich weiß nicht, ob er wusste, was „Apologetik“ bedeutet, aber er war sehr geübt darin. Wenn er mir selbst von diesen Momenten erzählte, war es nie, um sich selbst zu rühmen. 

Da war kein Stolz oder Selbstverherrlichung in seinen Worten, ganz im Gegenteil. Er sah es als Beweis, dass Gott seine Versprechen hält. Einem wie er, der kaum in der Schule war, wurden während dem Verhör immer wieder die passenden Worte gegeben. Worte vom Heiligen Geist gegeben, welche die Klugen dieser Welt zur Schande stellten, sie von Sünde überführte und ihnen den Mund stopfte.

Als er zu 10 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er seinen Herrn Jesus Christus nicht verleugnen wollte, ging er mit Würde und ohne Wanken. Auch wenn das bedeutete, dass er meine Oma mit den Kindern zurücklassen musste, war er bereit, für seinen Jesus zu sterben und das tat er auch beinahe. Nach einigen Momenten, in denen er im Gefängnis dem Tod gerade so entkam, wurde er nach 3 Jahren entlassen. Er war abgemagert und wog 37 Kilogramm als erwachsener Mann und doch überlebte er und diente weiter.

Im Jahr 1982 durfte mein Opa mit seiner Familie unter Aufsicht mehrerer KGB-Agenten nach Deutschland, Pforzheim, ausreisen.

Dem großen Vorbild begegnen

Auch während er in Deutschland lebte, gab er wirklich alles, um bedürftigen und verfolgten Christen zu helfen. 

Er reiste oft nach Russland, Australien und auch in die USA und predigte weiter das Wort.

Das waren Geschichten über meinen Opa, mit welchen ich aufwuchs.

Diese Geschichten prägten mein Bild davon, wie hingegeben ein Christ sein sollte. 

Ich kann mich erinnern, wie ich oft als Kind dachte, dass ich genau so opfernd leben wollte, wie mein Großvater es tat.

Aber es waren nicht nur Geschichten.

Ich war erst 18 Jahre alt, als ich mich richtig bekehrte. Nach einigen Jahren des lauen Christenlebens und der Hingabe zur Sünde weckte mich Gott endlich auf. 

Am Tag meiner Taufe in meiner damaligen Gemeinde in Adelaide, Australien, war mein Opa da.

Sein Flieger kam am Sonntagmorgen an, und statt sich nach 30 Stunden Wegzeit auszuruhen, kam er zu meiner Taufe. 

Stell dir vor, welche Gefühle ich hatte. In dem Moment, in welchem ich mich Jesus Christus hingab, war mein großes Vorbild Zeuge davon. Ich werde nie vergessen, wie wir nebeneinander am Abendmahl teilgenommen haben und was es für ein seltsames Gefühl war, dass der Mann, den ich so bewundert habe, vor mir kniete und mit solcher Liebe für mich betete, während er meine Füße wusch.

Fehler nicht verschweigen

Eigentlich sagt man, dass man seine Helden nie treffen soll, sonst wird man enttäuscht.

Ich kann das nicht bestätigen. Meine Mutter achtete stets darauf, dass mein großes Vorbild auch Fehler hatte.

Meine Mutter tat das, nicht weil sie meinen Opa schlecht reden wollte, sondern weil die Bibel es genauso tut. Ob Noah, Abraham, Mose, David, Petrus oder Paulus: Die Bibel verschweigt nie die Fehler der großen Männer Gottes.

Wie so viele Männer, die die Schrecken der UdSSR (Hungersnöte, Verfolgungen und Gefangenschaften) erlebten, konnte mein Opa sehr hart, grob und stur sein.

Vielleicht war es Stolz, weil Gott so vieles durch ihn getan hatte und er so viel für Gott. Vielleicht war es ein Mangel an Bildung oder Kenntnis der biblischen Hermeneutik. Vielleicht auch eine Kombination von allen diesen Faktoren, doch mein Opa hatte sich in einem Thema theologisch verrannt.

Wie und was genau das war, ist weniger wichtig. Denn schade ist, wie stur er war, sich in diesem Punkt korrigieren zu lassen. Es ging so weit, dass dieses Thema ihn mit einigen lokalen Brüdern spaltete.

Er kapselte sich von vielen Menschen ab und beschränkte damit erheblich sein Wirkungsgrad für das Reich Gottes.

Und das ist für mich das Traurigste an der Geschichte meines Helden.

Wertvolle Lektionen

Als er im April 2019 mit fast 92 Jahren verstarb und endlich seinen Jesus von Angesicht zu Angesicht sehen durfte, schrieb ich alles auf, für was ich ihm dankbar bin und was ich von ihm lernen durfte und noch lernen muss:

  • seinen Hunger nach Wissen und seine Liebe zu Büchern 
  • sein Durchhaltevermögen bei Schwierigkeiten
  • seinen Willen, das zu machen, was gemacht werden muss, egal wie mir danach ist
  • seine Bereitschaft zu haben, besonders in schwierigen Lagen
  • seinen unerschütterlicher Glaube, egal mit was der Feind droht oder lockt 
  • seine Bereitschaft, alles um des Evangeliums willen aufzugeben
  • seine Liebe zu dem Wort Gottes, das er gefühlt auswendig kannte
  • seinen Drang, Verlorenen das Evangelium zu predigen
  • Gleichzeitig erinnert mich sein Leben, die Sanftmütigkeit Jesu zu suchen, ohne auf die Finsternis meiner Lage zu achten.
  • belehrbar zu bleiben, egal wie viel ich meine zu wissen oder Erkenntnis zu haben
  • niemals zweitrangigen Themen zu erlauben, mich von anderen Christen zu trennen und damit meinen Wirkungsgrad für das Reich Gottes zu beschränken
  • von seinem letzten Lebensjahr, in dem er unglaublich bemüht war, sich für den Übergang vorzubereiten und mit allen Frieden zu schließen

Aber am allermeisten bin ich dafür dankbar, dass sein Leben und seine totale Hingabe mich immer wieder auf den einzigen Helden gelenkt hat, der perfekt, makellos und in allen Momenten siegreich ist: Jesus Christus.

Unsere irdischen Vorbilder sind nie perfekt. Das soll uns nicht enttäuschen oder verzweifeln lassen. Es muss so sein.

Sie sind auch nur Menschen, die wir brauchen, weil sie uns mit ihren großen Taten, mit ihrer Aufopferung und mit ihren Erfolgen zeigen, wie kostbar es ist, sich Jesus ganz hinzugeben, für ihn allein wirklich zu leben und zu sterben. Gleichzeitig zeigen sie uns mit ihren Misserfolgen, Fehlern und Versagen, wie abhängig wir von diesem Jesus sind – egal, wer wir sind oder was wir erreicht haben. 

Vielleicht ist das ihre allergrößte Heldentat.

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