Gnade heißt auf griechisch Charis und auf lateinisch Gratia.
Ähnlich wie die Feinwurzel unserer heimischen Pilze, die sich unterirdisch über mehrere Kilometer erstrecken, verhält es sich mit der Gnade Gottes. Die Gnade zieht sich durch die ganze Bibel, ja durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch. Der Pilz ist beim Durchscheinen aus dem Nährboden so fein, dass er sogar in die Ritzen von Steinen eindringt. Es entsteht ein dichtes, watteartiges Geflecht, das fast alle Orte im Boden besiedeln kann. So nimmt auch Gottes Gnade ein verhärtetes Herz ein, und aus den Wirkungen seiner Gnade entstehen besonnene und gottesfürchtige Seelen.
Die Gnade kann als eine Eigenschaft Gottes verstanden werden, die wie eine Macht auf den Menschen wirkt. Sie ist eine Gabe, die sich auf unterschiedliche Art und Weise zeigt und letztendlich in der Person Jesu Christi den Menschen erschienen ist.
Zunächst ist es jedoch wichtig zu verstehen, dass ALLE Eigenschaften Gottes ewig, gleichsam ausgeprägt und vollkommen sind. Sie können sich nicht gegenseitig ausschließen (Mt. 5,48).
Zum einen ist Gott voller Langmut und Geduld. Zum anderen aber genauso wie ein verzehrendes Feuer, das vernichtet und vertilgt. In seinem Wesen und Charakter ist Gott unveränderlich – was er vor Tausenden von Jahren sprach, das spricht er heute immer noch! Darum ist die Grundlage, die Gnade Gottes richtig verstehen zu können, das Anerkennen der Tatsache, dass er sich in Ewigkeit nicht ändern wird. Gottes Gnade lässt sich in zwei Arten unterscheiden:
die allgemeine Gnade (Gratia Generales)
die besondere/spezielle Gnade (Gratia speciali)
Allgemeine Gnade
Titus 2,11-13: „Denn die Gnade Gottes ist erschienen, die heilbringend ist für alle Menschen; sie nimmt uns in Zucht, damit wir die Gottlosigkeit und die weltlichen Begierden verleugnen und besonnen und gerecht und gottesfürchtig leben in der jetzigen Weltzeit, indem wir die glückselige Hoffnung erwarten und die Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Retters Jesus Christus.“
Die allgemeine Gnade ist demnach ein Wirken Gottes und zugleich auch eine Macht, die über alle Menschen besteht. Bereits im Alten Testament sehen wir Gottes überströmende Gnade. Diese erwies er dem ganzen Volk Israel, als er sie aus Ägypten herausführte und ihnen um seines Namens willen half:
„Unsere Väter in Ägypten achteten nicht auf deine Wunder, sie gedachten nicht an deine große Gnade und waren widerspenstig am Meer, am Schilfmeer. Aber er errettete sie um seines Namens willen, um seine Stärke offenbar zu machen.“ (Ps. 106, 7-8)
Und selbst als sich sein Volk von Ihm abwendete und Götzendienst trieb, kam ihnen der Herr in seiner Gnade und Huld entgegen:
„Aber er sah ihre Not an, als er ihr Schreien hörte, und gedachte an seinen Bund mit ihnen und empfand Mitleid nach seiner großen Gnade; und er ließ sie Barmherzigkeit finden bei allen, die sie gefangen hielten.“ (Ps. 106, 44+45)
Gott erwies dem Volk Israel keinesfalls durch eigenen Verdienst seine Gnade und Gunst. Vielmehr lehrte er die Menschen, dass er seine Gnade völlig unverdient und ohne Vorausleistung gibt. All dies warf bereits den Schatten auf die Erwartung der seligen Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und Retters Jesus Christus voraus.
Gottes allgemeine Gnade wirkt auf verschiedene Weise über alle Menschen. Er ist gütig den Undankbaren, gibt Regen und Sonnenschein, schenkt Fröhlichkeit und ist auch der Retter aller Menschen (1.Tim. 4,10). Der Höhepunkt der göttlichen Gnade erweist sich jedoch in der Fleischwerdung Gottes durch seinen Sohn Jesus Christus. Das ist Gottes letztliche Antwort auf die Fragen der Menschheit nach Gott und seiner Gnade (Hebr. 1,1-3). Gott gab von seiner Seite aus allen die Gnade, ihn zu suchen, sich ihm zu nahen und ein Kind Gottes zu werden.
Besondere/Spezielle Gnade
Über den Retter und Heiland aller Menschen spricht Paulus in seinem Brief an Timotheus. Er hebt an dieser Stelle die besondere und gezielte Gnade hervor. Diese wird den Auserwählten zuteil, damit sie heilig und tadellos vor ihm wären (Eph. 1,4). So heißt es weiter, dass Gott uns aus Liebe zur Sohnschaft vorherbestimmte, nach dem Wohlgefallen seines Willens. „In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden nach dem Reichtum seiner Gnade.“ (Eph. 1,5-7). Es ist also eine gezielte Wirkung an einem Einzelnen, der sich Gottes allgemeinen Gnade nicht entzog, sondern in Demut unterwarf. Wenn beispielsweise ein Mensch auf hoher See über Bord geht, weiß er, dass er verloren ist. Aus eigener Kraft kann er sich nicht retten, er ist angewiesen auf die Hilfe anderer. In dieser lebensbedrohlichen und ausweglosen Situation würde kein Mensch die Hilfe anderer ablehnen und auf eigene Kräfte bauen. Vielmehr würde diese Person froh und dankbar für ihre Helfer sein. Diese gezielte Wirkung könnte man auch als Gnadenstrahl bezeichnen. Auch dem Schächer am Kreuz wurde dies zuteil. Er erkannte seine ausweglose Situation und begriff, dass er zu Recht diese Strafe erlitt. Ihm wurde bewusst, dass Jesus, der in der gleichen Situation neben ihm hing, ohne jegliche Schuld war. Der Schächer bat in Demut und ohne ein Erwarten, dass Jesus im Paradies an ihn denken möge. Darauf antwortete Jesus die bekannten Worte: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein“ (Luk. 23,41).
Es gibt keine Möglichkeit, sich die Gnade Gottes auf irgendeine Art und Weise zu verdienen oder zu erarbeiten. Es würde im Widerspruch gegenüber der Natur der Gnade stehen. Allein Gott in seiner Souveränität entscheidet, wem und wann er Gnade gibt (2. Mos. 33,19 b). Nur in tiefer Demut und der Erkenntnis eigener Sündhaftigkeit, kann man sich in die Position der Empfängnisbereitschaft seines Gnadenstrahls begeben (Jak. 4,6).
Zusammenfassend ist die Gnade Gottes eine Gabe, die der himmlische Vater uns durch seinen Sohn Jesus Christus jeden Tag aufs Neue schenkt (Kla. 3,22-23). Zudem ist sie eine mächtige geistige Heilung, die uns Christus durch seine Barmherzigkeit und Liebe anbietet. Da, wo früher die Sünde herrschte, wirkt nun die Gnade durch Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus (Röm. 5,21). Unser Bestreben sollte daher sein, die Gnade Gottes nicht zu versäumen (Hebr. 12,15), damit keine bittere Wurzel aufwächst, die uns verunreinigt.
Möge der HERR uns darin Gnade schenken!