Das Mädchen mit dem Lächeln

Im Jahre 2012 machte ich mit meinem Mann Rudi einen dreieinhalbmonatigen Einsatz in Indien und verbrachte viel Zeit mit Mädchen des Queen-Esther-Heims von NIEA. Dort leben etwa 125 Mädchen, die durch Patenschaften der Inter-Mission versorgt werden. Sie alle kommen aus sehr armen Hintergründen, viele von ihnen sind Halb- oder Vollwaisen. Recht bald fand ich heraus, dass die meisten Töchter Indiens ungewollt sind und sie diese Ableh nung auch deutlich von der Familie und Gesellschaft zu spüren bekommen. Als Frau und Mutter von drei geliebten Töchtern bewegte mich dieses Thema dazu, diesen Bericht zu schreiben. Als ich 2014 mit meiner Familie in das Queen-Esther-Heim zog, erlebten wir eine wunderbare Zeit mit den vielen Kindern, deren Leben ein Zeugnis für die liebevolle und treue Versorgung unseres Vaters im Himmel ist. Ich sah, wie sich der Bibelvers aus Psalm 68,5 ganz praktisch erfüllte: Gott ist ein Vater der Waisen. Inmitten der großen Mädchenschar des Heims bemerkte ich ein kleines Madchen, das – wie mir schien — nie aufhörte zu lächeln. Ihr Name bedeutet „wohlgesonnen“, in diesem Bericht nenne ich sie Sunny. Ihre Augen verrieten leidenschaftliche Freude und ihr Lachen erkannte man schon von Weitem.

Mit der Zeit erfuhr ich ihre interessante Geschichte: Sunny wurde im August 2000 in einem sehr unentwickelten Dorf geboren. Ihre Mutter musste nach wie vor harte Feldarbeit erledigen um zu überleben. Die Familie ihres Vaters, bei der Sunny aufwuchs, war streng hinduistisch und betrachtete sie als Fluch, weil sie kein Junge war. Die Geburt einer Tochter ist für sie der Beweis, dass man ein böser Mensch ist. So wurden beide gehasst, Sunny und ihre Mutter. Nach zwei Jahren verließ ihr Vater die Familie. Sie konnte also nie erleben, Wie sich liebe volle oder schützende Hände eines Vaters anfühlen und klammerte sich umso mehr an ihre Mutter. Mit etwa fünf Jahren passierte etwas Schreckliches. Ein zum Kochen verwendeter Gaszylinder explodierte unerwartet und tötete die geliebte Mutter. Danach durfte Sunny zwar im Haus ihres Onkels schlafen, wurde aber als unnütze Last empfunden. Oft fühlte sie sich so, als sei sie die Ursache für alles Schlechte im Leben dieser Familie. Kurz nach dem tragischen Tod der Mutter steckten die Verwandten die Kleine in ein Restaurant, in dem sie den ganzen Tag Geschirr waschen oder Müll aufräumen musste, um überhaupt etwas zu essen zu bekommen.

Nach einiger Zeit erfuhr eine ältere Cousine von Sunnys Schicksal und sorgte dafür, dass sie 2005 im Heim aufgenommen wurde, wo sie in kürzester Zeit viele Freunde gewann, gesundes Essen bekam und regelmäßig zur Schule gehen konnte. Das Beste war aber, dass sie jemanden kennenlernte, der sehr große Lücken in ihrem Leben füllte und dafür sorgte, dass sie trotz dieser grausamen Geschichte lächeln konnte: der Gott der Bibel. Wie unbeschwert und glücklich sah sie aus, wenn sie mit anderen Mädchen spielte oder mit geschlossenen Augen und empor gehobenen Händen Jesus anbetete. Wenn ich Hilfe im Haushalt oder bei der Betreuung meiner Töchter benötigte, war Sunny stets zur Stelle. Ihr Lächeln und ihre kindliche Art eroberten die Herzen meiner Kinder. Sie war In vielerlei Hinsicht besonders:

Sie hatte die längsten Haare, konnte so schöne Blumen malen wie sonst keiner und war außerdem die Schnellste im ganzen Kinderheim. Gemeinsam spielten wir draußen oft „Pito“, wobei es besonders auf Teamfähigkeit, Treffsicherheit und Schnelligkeit ankommt, und auch hier war sie unschlagbar. Wenn Sunny eine Schwäche hatte, dann war es Mathe. Sie erinnert sich noch gut an die vielen Nachhilfestunden, die mein Mann ihr und anderen Mädchen gab. Gemeinsam mit unserer Familie erforschten wir die interessanten Geschichten der Bibel und feierten sehr schlicht aber herzlich Weihnachten.

Mit den Jahren realisierte Sunny zunehmend, dass sie nicht ihr ganzes Leben im Kinderheim verbrin gen würde. Die schmerzhaften Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit quälten sie mit bohrenden Fragen: „Wohin soll ich gehen, wenn ich das Heim verlasse? Wird mir jemand eine Ausbildung be zahlen? An wen werden mich meine Verwandten verheiraten? VVie werden sie reagieren, vvenn sie erfahren, dass ich Christin bin?“ Oft kam Sunny zu mir, um ihr Herzeleid zu teilen und von ihrer Angst zu erzählen, aber sie klagte nie und vertraute Jesus.

Auch als es um die Mitgift bei der Hochzeit ging. Für den Onkel fiele sie am niedrigsten aus, wenn er Sunny sehr früh an einen ungebildeten, viel älteren Hindu aus derselben Kaste verheiratete. Wie immer knieten wir gemeinsam nieder und übergaben das Schicksal dieses Kindes in die Hände unseres himmlischen Vaters, der die Waisen nicht im Stich lässt (Joh. 14, 18).

Nach Abschluss der zehnten Klasse holte ihr Onkel sie in den Sommerferien zurück zu sich. Zu diesem Zeitpunkt lebten wir schon in einer anderen Gegend Bihars. Behutsam versuchte Sunny den Verwandten zu erklären, dass sie nun eine Nachfolgerin Jesu sei. Diese reagierten jedoch total erbost, versuchten ihr diesen „Quatsch“ auszureden, setzten sie auf verschiedene Weise unter Druck und drohten, sie mit einem behinderten Mann zu verheiraten. Eine Tante zwang sie mit Gewalt, sich vom Christentum loszusagen und die Götter des Hinduismus anzubeten. Aber Sunny blieb fest in ihrem Glauben und sagte: „Ich werde nie von Christus wegrennen!‘ Vergeblich versuchte sie uns zu erreichen, doch wir hielten uns aufgrund von Rudis Motorradunfall gerade in Deutschland auf. Als Rudi im August 2018 für kurze Zeit nach Indien kam, rief Sunny ihn an und schilderte ihm den Ernst ihrer Lage. Eigentlich wollte sie vor ihrer Hochzeit noch eine Berufsausbildung machen, aber ihr Onkel hatte entschieden, sie schnell zu verheiraten. Durch die Hilfe ihrer Cousine wurde ein junger Mann gefunden, dessen Eltern bei GEMS Missionare sind und dessen Bruder Rudis Student im GEMS Polytechnic College war.

Sunnys Onkel war zwar nicht begeistert von der Idee, aber die Tatsache, für diese Hochzeit keine Mitgift bezahlen zu müssen, erleichterte alles ein wenig. Da diese Missionarsfamilie sehr arm ist und der Onkel drängte, konnte mit Hilfe einer kleinen Spende aus Deutschland am 30.08.2018 eine schöne christliche Hochzeit für das Paar organisiert werden.

Auch wenn diese Liebesgeschichte für westliche Ohren nicht gerade romantisch klingt, erfüllte sich letztlich Sunnys Traum, einen Mann zu heiraten, der Jesus liebt und ihm nachfolgt. Jetzt arbeiten beide in einer christlichen Schule als Lehrer und Sunny macht nebenher ihre Fachhochschulreife. Im Januar und im Mai dieses Jahres besuchten sie uns und wir konnten uns austauschen und miteinander beten. Sie lächelte immer noch genauso wie damals als Kind. Als ich sie nach dem Grund ihrer stets fröhlichen Ausstrahlung fragte, antwortete sie nur: Das hat Jesus vollbracht.

Ein Bericht von Lisa Stebner

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